Sonntag, 24. November 2013

Review: "Die Dämonen", Fjodor M. Dostojewski

Am Anfang des Sommers erhielt ich ein neues Buch. Für einige Zeit lang, bevor ich tatsächlich anfing es zu lesen, scherzte ich, ich würde den Sommer über ein Lesetagebuch auf diesem Blog führen - schlicht und einfach, um stets motiviert zu bleiben, Dostojewskis 1000 Seiten langes Werk Die Dämonen auch wirklich zu beenden. Dann begann ich das Buch, stellte zu meiner eigenen Überraschung fest, dass die ersten hundert Seiten gar nicht so öde und schwurbelig waren wie befürchtet, und entschied mich gegen ein Lesetagebuch.
Oh, hätte ich doch nur anders gehandelt. Hätte ich doch nur.
Denn beendet habe ich das Buch tatsächlich - gestern. Nach vier, fast fünf, Monaten.

Was ich nicht bedacht hatte: Wenn man tausend Seiten hat, liegen zwischen den halbwegs aufregenden ersten hundert Seiten und den wirklich spannenden letzten hundert noch achthundert Seiten, die überwunden werden wollen. Und diese achthundert, die haben sich echt gezogen.
Dostojewski schreibt in Die Dämonen von den Verwirrungen einer russischen Kleinstadt, gerade von Leibeigenschaft in autoritäre Verwaltung übergegangen, in der traditionelle Herrschaft auf ehrgeizige Habenichtse, Literaten auf gläubige Analphabeten, und nicht zuletzt Anarchisten auf Autokraten treffen. Um den Gutsbesitzer-Sohn Stawrogin und den jungen Emporkömmling Werchowenskij sammelt sich eine kleine Gruppe, mit dem Ziel, "eine neue Ordnung" zu etablieren und zu diesem Zwecke mit Gewalt die alten Strukturen aufzubrechen. Ein politischer Thriller, so könnte man meinen, in dem die klassischen Gegensätze - alt, jung, traditionell, neu, Religion, Politik - gegeneinander ausgespielt werden.
So kann man das Buch auch lesen, wenn man unbedingt möchte. Sicher, vieler der Figuren revoltieren, wie der Einband verspicht, "jeder auf seine eigene Weise gegen bestehende Ordnungen". Aber leider sind es eben sehr, sehr viele Figuren, mit sehr, sehr vielen Problemen. Auf den tausend Seiten wird so manche Liebesverwirrung breitgetreten, so mancher ideologische Monolog gehalten, so manche Fehde angezettelt. Der politische Hintergrund, Dostojewskis durchaus angemessene Kritik an einem falsch interpretierten Sozialismus, tritt hinter die persönlichen Wehwehchen zurück: Wenn der Student Schatoff für eine mögliche Denunziation ermordet werden soll, so wird er in Wahrheit doch nur für seine Beleidigung Werchowenskijs umgebracht. Es ist, alles in allem, eben doch ein klassisches russisches Epos, samt all der Melodramatik, die 1870 ganz angesagt war.
Auf den letzten hundert Seiten, als Dostojewski anscheinend die warmen Worte ausgehen, wird es dann noch mal richtig wild. Die Zahl der Toten liest sich am Ende so, als seien Die Dämonen das direkte Vorbild für Game of Thrones gewesen, und vor lauter Intrigen, Feuersbrunsten, und unvorhersehbaren Kindsgeburten weiß man gar nicht, wo einem der Kopf steht. Das macht, in einer seltsamen Art und Weise, richtig Laune. Aber man muss eben erstmal bis dahin durchhalten.

1 Kommentar:

  1. Danke – für diese wunderbare Buchkritik. Hat viel Freude bereitet beim Lesen. Mal jemand der sich auf Dostojewski einlässt und sich hernach nicht genötigt sieht, hochdurchgeistigt den Philosophen und Seher zu proklamieren. So kurz, so plastisch geschrieben… Ich kann Ihnen nur beipflichten: „Oh, hätten Sie doch nur anders gehandelt. Hätten Sie doch nur.“ Das angedachte Lesetagebuch geführt. Es wäre mir ein Genuss gewesen. Sollten Sie noch einen Dostojewski ins Auge fassen, schreiben Sie ein Lesetagebuch und sagen mir unbedingt Bescheid.
    Noch eine Anmerkung.
    „Wenn der Student Schatoff für eine mögliche Denunziation ermordet werden soll, so wird er in Wahrheit doch nur für seine Beleidigung Werchowenskijs umgebracht.“
    Vielleicht auch nicht. Möglicherweise ging es einfach nur um die Ausübung / Demonstration von Macht. Die Story hat ja tatsächlich stattgefunden. Dostojewski bezieht sich dort auf Zeitungsberichte und eines Verwanden seiner zweiten Frau. Ich verzettle mich, aber es gibt so viel interessante Aspekte. Vielleicht schauen Sie hier einfach mal vorbei.
    http://www.dostojewski.eu/02_WERK/18711_Die_Daemonen.htm

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